Aktivierung des Tumors?

„Ich leide an einem metastasierenden Ovarial Ca und befinde mich aktuell in dem 2. Zyklus einer Chemotherapie. Seit einigen Wochen mache ich die ketogene Diät (die mir keine Schwierigkeiten bereitet). Nun hat mir eine Freundin einen Artikel gegeben (aus dem Heft „Perspektive“ 3/13) in dem diese Form der Diät als kontraproduktiv gesehen wird und ggf, der Tumor sogar noch aktiviert wird.
Ich bin sehr unsicher, wie ich mich nun verhalten soll. Gibt es Ihrerseits neue Erkenntnisse? Da mein Krebsstadium durchaus bedrohlich ist, muss ich mich entscheiden, ob ich die Diät weiter durchführe – eine Aktivierung des Tumors möchte ich aber nicht in Kauf nehmen.“

Antwort

In dem von Ihnen erwähnten Artikel [1] ist tatsächlich zu lesen: „Experimente an Tumorzellen und Tierversuche zeigen, dass Tumore mit zuckerarmer Nährstofflösung zunächst langsamer wachsen. Allerdings kommt es nach einiger Zeit zu einer Anpassung der Tumorgröße. Sie wachsen dann schneller als vorher.“ Die Autoren geben keine Literaturstelle an, woher sie diese Information haben wollen.

Allerdings haben die Autoren (mit teils anderen Koautoren) ähnlich lautende Aussagen bereits in zwei anderen Artikeln getroffen. Da diese fachlich eindeutig falsch sind möchten wir hier etwas ausführlicher auf Ihre Anfrage eingehen.

Die beiden anderen Artikel:

In einem Artikel in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift [2] steht folgende Aussage:

„Bei Mäusen konnte nach Tumorinjektion beim Vergleich einer ketogenen mit einer Standarddiät gezeigt werden, dass es zunächst zu einer signifikanten Wachstumsverzögerung des Tumors in der ketogenen Gruppe kommt. Nach Tag 20 beschleunigt sich jedoch das Tumorwachstum unter ketogener Diät und liegt deutlich höher als unter Standardkost (29).“
Die hier zitierte Literaturstelle 29 ist folgende:

Otto C, Kaemmerer U, Illert B et al. Growth of human gastric cancer cells in nude mice is delayed by a ketogenic diet supplemented with omega-3 fatty acids and medium-chain triglycerides. BMC Cancer 2008; 8: 122–127 [3]

Und sehr ähnlich findet sich ein Zitat in der Zeitschrift „Der Onkologe“ [4]: „Bei Mäusen konnte nach Tumorinjektion beim Vergleich einer ketogenen vs. einer Standarddiät gezeigt werden, dass es in den ersten Tagen zu einer signifikanten Wachstumsverzögerung in der ketogenen Gruppe kam, nach Tag 20 beschleunigt sich jedoch das Tumorwachstum in der ketogenen Diät und lag deutlich höher als in der Standardkost (19).“

Die hier zitierte Literaturstelle 19 lautet: Otto CH, Kämmerer U. (2010) Die ketogene Diät als Ernährungsoption für Tumorpatienten. Krankheitsbedingte Mangelernährung. DGEM Schrift

Zum einen fällt auf, dass beide fast wortgleiche Zitate mit jeweils einer anderen Publikation belegt sind. Das ist nicht korrekt, in der DGEM-Schrift wird das Experiment gar nicht erwähnt.

Zum anderen – legt man die korrekte Arbeit zugrunde, das ist die englischsprachige-, bezieht sich diese Aussage der Autoren offensichtlich auf einen Halbsatz des Abstracts, der im Original: „After day 20, tumours in the KD group grew faster….“.lautet.

Das Abstract beginnt jedoch mit der eindeutigen Aussage: „The tumour growth in the KD group was significantly delayed compared to that in the SD group.“
Und dieser Satz macht unmissverständlich klar, dass in der Gruppe der Tiere mit der ketogenen Diät (KD) die Tumoren signifikant (das heißt sehr deutlich) LANGSAMER wuchsen als bei den Tieren, welche eine kohlenhydratreiche Standarddiät (SD) bekamen.

Entscheidend in diesem Zusammenhang ist nun zur korrekten Bewertung der Daten die zweite Hälfte des „20 Tage“-Satzes,  „….although the differences in mean tumour growth continued significantly.“

Der Halbsatz mit dem „beschleunigten Wachstum der Tumoren in der KD-Gruppe ab Tag 20“ bezieht sich darauf, dass diese Tumoren in den ersten 20 Tagen praktisch kaum wachsen, dann etwas deutlicher, aber, und das ist die entscheidende Aussage – auch dann blieb das Tumorwachstum in der Gruppe mit der ketogenen Diät immer noch signifikant LANGSAMER als bei den kohlenhydratreich gefütterten Tieren.

Eine „Aktivierung des Tumors“, wie Sie befürchten, ist aufgrund dieses leider falsch dargestellten Tierversuches für die ketogene Diät folglich NICHT zu befürchten.

Die gesamte Publikation ist „open access“ für jeden frei verfügbar mit allen Daten und Abbildungen im Internet einsehbar.

Wenn Sie sich diese ansehen, finden Sie in Abbildung 3 (figure 3) die Kaplan-Meier Kurven. Hier ist eindeutig zu erkennen, dass die Sterbekurve der Tiere aus der ketogenen Diät-Gruppe deutlich flacher verläuft als diejenige der Kontrolldiät und dass die Tiere deutlich länger leben. Die ketogene Diät VERLÄNGERT hier also das Überleben gegenüber der Normalkost.

Abbildung 4 A zeigt den Verlauf des Tumorwachstums mit den zugehörigen Regressionsgeraden. Diese repräsentieren sehr gut den jeweiligen Kurvenverlauf (mit R2 0.987 bzw. 0.977) und zeigen die signifikant GERINGERE Steigung für das Tumorwachstum der KD-Gruppe im Vergleich zur Standardgruppe. Die ketogene Diät lässt hier die Tumoren also viel langsamer wachsen als die Standardkost.

Einen extrem wichtigen Punkt können Sie in Abbildung 5 sehen: die Tumoren in der Gruppe mit der ketogenen Kost haben bei Erreichen des Zielvolumens signifikant größere Bereiche mit Nekrosen (abgestorbene Zellen). Dies bedeutet, dass hier durch die ketogene Diät offensichtlich eine massive Beeinträchtigung des Tumorwachstums erzielt wird und sehr viel weniger vitale Tumorzellen vorliegen als bei der Standardkost.

Auch das ist sicherlich keine „Aktivierung des Tumors“, sondern eher das Gegenteil!

Wir möchten diese Tierversuchsdaten nicht überinterpretieren, aber da diese in mehreren Publikationen offensichtlich benutzt werden, um vor einer ketogenen Kost zu warnen, sei das Kernproblem nochmals wie folgt zusammengefasst:

Die Warnung, Tumoren würden unter der ketogenen Diät nach einer Anpassungsphase schneller wachsen als bei Normalkost, beruht auf einer Falschdarstellung der eindeutig publizierten Tierdaten.

Konkret wird so folglich vor einer Kost (nämlich der ketogenen Ernährung) gewarnt, bei der Tumoren langsamer wachsen und „Patienten“ (hier die Mäuse) länger überleben.

Wissenschaftliche Daten, welche wirklich belegen, dass Tumoren unter einer ketogenen Diät schneller wachsen würden, sind derzeit nicht bekannt. Im Gegenteil, auch weitere Tierversuche belegen den eindeutig hemmenden Einfluss einer ketogenen Diät auf das Tumorwachstum.

Was bedeutet das für Sie in Ihrer Situation:

Wenn Sie mit der ketogenen Diät sehr gut zurechtkommen, wie Sie schreiben, spricht nach aktueller Datenlage nichts dagegen, diese fortzuführen.
Eine „Aktivierung“ Ihres Tumors ist dadurch nach aktuellem Wissensstand nicht zu befürchten, dies wurde noch nirgends nachgewiesen. Sie dürfen sich aber auch kein „Aushungern“ erwarten, sondern eine Stärkung für Sie als Gesamtpatientin und eine Hilfe gegen das Auszehren und den Muskelabbau.

1.    Abbenhardt, C, Huebner, J, Loeser, C (2013) Krebsdiäten – keine Hilfe gegen Krebs. Perspektive – Magazin der Frauenselbsthilfe nach Krebs 3:7-9
2.    Huebner, J, Marienfeld, S, Abbenhardt, C, Ulrich, C, Loeser, C (2012) Wie sinnvoll sind „Krebsdiäten“? Eine kritische Analyse als Grundlage für die ärztliche Beratung. DMW-Deutsche Medizinische Wochenschrift 137:2417-2422
3.    Otto, C, Kaemmerer, U, Illert, B, Muehling, B, Pfetzer, N, Wittig, R, Voelker, HU, Thiede, A, Coy, JF (2008) Growth of human gastric cancer cells in nude mice is delayed by a ketogenic diet supplemented with omega-3 fatty acids and medium-chain triglycerides. BMC Cancer 8:122
4.    Huebner, J, Loeser, C, Stoll, C (2013) Vorstellungen zur Therapie von Malignomen mit Krebsdiäten. Empfehlungen für die ärztliche Beratung. Der Onkologe 19:108-116